Die Presse – Wenn die Welt ein Dorf wäre

Neuerscheinung. Drei Sozialwissenschaftler haben ein Gedankenexperiment durchgeführt: Sie haben eine Gemeinschaft entworfen, in der nur 100 Menschen leben, und wichtige Entwicklungsdaten darauf heruntergebrochen. So sollen die großen Probleme der Welt im Kleinen greifbar werden.

Pali ist 22 Jahre alt und kommt aus Indien. Als Frau wird sie dort nicht für voll genommen, aber ihr Leben ist auch sonst gefährlich, schon die tägliche Hygiene of ein Risiko. Sie lebt in slumartigen Verhältnissen und ernährt sich mangelhaft, meist nur von Obst und Gemüse. Und dann gibt es Aurich. Das größte Lebensrisiko des 72-jährigen in Europa geborenen Mannes sind altersbedingte Krankheiten und Pflegebedürftigkeit. Er hat studiert, lebt in einer gut ausgestatteten städtischen Wohnung und isst eher üppig.

Beide sind Teil einer Gemeinschaft, die Andreas Exenberger von der Uni Innsbruck, der pensionierte Universitätsprofessor Josef Nussbaumer und der promovierte Volkswirt Stefan Neuner in ihrem eben erschienen Buch „Globo. Eine neue Welt mit 100 Menschen“ erdacht haben. „Menschen können mit enormen Größenordnungen meist wenig anfangen. Wir haben diese daher auf verständliches Niveau heruntergebrochen“ erzählt Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Exenberger. So wird die Welt als kleines Dorf geschildert, wo die Menschen etwas verstreut in fünf Weilern wohnen: fünf in Nordamerika, acht in Lateinamerika, zehn in Europa, 16 in Afrika und 61 in Asien. Andere Regionen waren zu klein, um sie auf dieses Niveau herunterzubrechen. Freilich wäre manches, wichtige Erfindungen etwa, in einem so kleinen Dorf nicht möglich. Aber die wichtigsten Bedürfnisse und Entwicklungen werden in dieser überschaubaren Gemeinschaft leichter deutlich.

Einladung zum Selberdenken

Die Struktur liefern die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele, die die Vereinten Nationen anno 2015 definiert haben: Vom Ansinnen, dass niemand mehr in Armut leben soll, über den Aufruf, gute Bildungschancen zu schaffen, bis hin zu Appell für ein friedliches Miteinander. „Wir wollen ein umfassendes und richtiges Bild zeichnen her alle Lebensbereiche“, sagt Exenberger. Oft werde nur mit selektiven Ausschnitten der Wirklichkeit oder gar falsch argumentiert. Wobei das Autorentrio keinen Anspruch auf endgültige Wahrheit erhebt oder nderen Weisheiten vorschreiben will: Das Buch sei vielmehr eine Einladung zum Selberdenken.

Das vorliegende ist nicht das erste Werk dieser Art: 2010 haben die Autoren bereits so eine Welt im Kleinen geschaffen. Nun sei es – auf Basis neuerer Zahlen – wieder an der zeit gewesen, das Dorf zu besuchen, heißt es im Prolog zum Buch. Denn Ziel der Autoren bliebt, wesentliche Probleme der Menschheit zu vermitteln, Verschlechterungen aber auch Verbesserungen in den einzelnen Bereichen darzustellen.

Vor allem Multiplikatoren wie Lehrer, aber auch Studierende und Menschen, die sich mit Weltverhältnissen in allen Lebensbereichen befassen, sollten es lesen, wünscht sich Exenberger. In seiner Forschung befasst er sich seit jeher mit der Frage, welche Institutionen die Welt für eine gute Entwicklung braucht, die Habilitation vor zehn Jahren hat er zum Hunger und Globalisierung verfasst.

Damit die komplexen Themen nicht zu abstrakt bleiben, stellen die Autoren im Anhang 100 „statistische Gesichter“ vor, die so wie Pali und Aurich – als Protagonisten in die einzelnen Kapitel hineinspielen. Dadurch werde leichter und lebendiger deutlich, was die Menschen trennt und was sie verbindet, sagt Exenberger. Man wolle ein Gefühl für Zusammenhänge schaffen – „alles hängt mit allem zusammen“ – und zugleich ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Verantwortungsbewusstsein.

Ob es noch ein drittes Dorf geben wird? Das scheint sehr wahrscheinlich, die Daten sind irgendwann alt. Im Jahr 2030 läuft die Agende 2030 aus, in der die UNO die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung definiert hat. Spätestens da wolle man sehen, wie gut das globale Dorf auf Kurst ist, so Exenberger. Nachsatz: „Aber wenn wir das Gefühl haben, dass es notwendig ist, werden wir vielleicht schon früher aktiv.“

Dem mitteleuropäischen Leser dürfte bei der Lektüre jedenfalls immer wieder bewusst werden wie hoch der eigene Lebensstandard ist. Exenberger hofft, dass das die Menschen auch zum Handeln ermutigt. Ihm ist wichtig: „ Niemand soll davor zurückschrecken, dass der eigene Beitrag nur klein ist. Denn passiert er nicht, fehlt er gänzlich.“ Ein bisschen Gutes tut man immerhin schon mit dem Kauf des Buches: Der Reinerlös kommt karitativen Zwecken zugute.

Von Alice Senarclens de Grancy
Die Presse (Printausgabe), 24.10.2020, W5