Das Märchen vom grenzenlosen Wachstum

“Das Märchen vom grenzenlosen Wachstum”
von Sarah Funk
Paulo Freire Zentrum

Wenn die ÖFSE zum gemeinsamen Querdenken globaler Lebensrealitäten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lädt, folgen doch einige Interessierte. Anhand eines ganz besonderen Dorfes referierte Andreas Exenberger am 24. März 2010 über das „Märchen vom grenzenlosen Wachstum“ und löste dabei so manchen Aha-Effekt aus.

„Wer glaubt, exponentielles Wachstum kann auf einem begrenzten Planeten für immer fortschreiten, ist entweder ein Schwachkopf oder ein Ökonom.“ Durch seine humorvolle Herangehensweise an die drängenden Fragen globaler Entwicklung (hier durch den Rückgriff auf ein Zitat des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschafter Kenneth E. Boulding) unterscheidet sich Andreas Exenberger, Wirtschafts- und Sozialhistoriker der Universität Innsbruck, von anderen ExponentInnen der Zivilgesellschaft, mit denen er das Ziel eines grundlegenden kulturellen Wandels von einer konsumistischen Lebenseinstellung hin zur Nachhaltigkeit teilt. Seine Botschaft sei, so Exenberger, eine auf den ersten Blick mäßig originelle:

Seit der 1972 veröffentlichten Studie des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ haben WissenschafterInnen und Institutionen in regelmäßigen Abständen auf die mit Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Ausbeutung von Rohstoffreserven, Umweltverschmutzung und der Zerstörung von Lebensraum verbundene Dynamik exponentiellen Wachstums hingewiesen. Dennoch, so Exenberger, wissen viele Menschen zu wenig über die Wachstumsgrenzen auf der Erde, wieder andere verstehen das, was sie wissen, zu wenig, beziehungsweise handeln zu wenig gemäß ihrer Erkenntnis. Darum hat Exenberger gemeinsam mit seinen Kollegen Josef Nussbaumer und Stefan Neuner ein Buch geschrieben, das LeserInnen auf anschauliche und nachvollziehbare Weise über globale Phänomene und Entwicklungen informieren soll, um so zu einem nachhaltigen Bewusstseinswandel beizutragen. „Unser kleines Dorf“, das aufgrund der großen Nachfrage in mittlerweile zweiter Auflage im IMT Verlag erschienen ist, bedient sich eines Kunstgriffs, der letztlich ein Gedankenexperiment ist: Was wäre wenn … die Welt ein Dorf mit 100 Menschen wäre?

Ein Dorf mit 100 Menschen

Das statistische Dorf des Autorenkollektivs trägt den Namen „Globo“ und ist als „Panoptikum globaler Lebensrealitäten“ zu verstehen. Es besteht aus sechs Weilern (Nordamerika, Lateinamerika, Europa, Afrika, Asien und Ozeanien). Bei einer Gesamtfläche von 840 Hektar entfallen 590 Hektar auf Wasser und 250 Hektar auf Land. Nur 3 Hektar der Fläche sind für Städte und Infrastruktur nutzbar.

Die vergleichsweise überschaubaren Relationen ermöglichen es, globale Verhältnisse besser zu visualisieren. Es sind vor allem die tollen Grafiken, von Stefan Neuner zu jedem Kapitel (Bevölkerung, Wirtschaft, Ernährung, Energie, Verkehr, Arbeit, Konsum, etc.) gestaltet, die das Buch besonders auszeichnen. Auch zwei ganz beträchtliche Plastikinseln sind darauf zu sehen, die im Meer treiben. Sie zeugen vom globalen Müllproblem, das mittlerweile bedrohliche Ausmaße angenommen hat.

Globale Ungleichheit in Miniatur

In den letzten 200 Jahren ist die Entwicklung in Globo sprunghaft verlaufen: Wohnten im Weiler Nordamerika im Jahr 1825 statistisch gesehen noch 0 Menschen, waren es im Jahr 2000 bereits 5. Im selben Zeitraum entwickelte sich die Bevölkerung in Lateinamerika von 1 auf 9 Menschen, in Europa von 4 auf 12 und Asien verzeichnete einen Anstieg von 12 auf 61 Menschen. Auch in Afrika ist der Zuwachs von einer auf 13 Personen beträchtlich. Aufgrund des exponentiellen Bevölkerungswachstums spricht Exenberger vom Zeitalter des Anthropozäns: Es ist der Mensch, der seit 200 Jahren die Entwicklung (besser: Auseinanderentwicklung) der Welt maßgeblich gestaltet. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander und auch in Globo gibt es Grenzzäune um die Wohlstandsinseln.

Während nur 10 reiche Menschen im Dorf leben, 2 davon in Nordamerika, 4 in Europa und 4 in Asien, leben 30 Menschen in relativer Armut, davon 8 in Afrika, 4 in Lateinamerika und 18 in Asien. Globo hat ein massives Verteilungsproblem: Während 20% der Bevölkerung 80% der Ressourcen beanspruchen, verbrauchen 80% der Bevölkerung nur 20% der Ressourcen. Es bräuchte, so Exenberger, bis zu 20 Globos, um den weltweiten Ressourcenbedarf auf dem Niveau der Reichen zu sichern. Eigentlich können heute nur noch 88 Menschen „nachhaltig“ in Globo leben.

Krise und Kollaps

Die Folgen? Globalisierungskrise, Energiekrise, Klimakrise – die alarmistische Rhetorik ist allgegenwärtig. Des Öfteren fallen Begriffe wie „Kollaps“, „Krise“ und „Weltuntergangsszenario“. Obwohl sich Exenberger gegen eine Strategie des Alarmismus ausspricht, scheint die öffentliche Bewusstseinsbildung nicht ohne auszukommen.

Klar ist, so Exenberger, dass das derzeitige exponentielle Wachstum nicht tragfähig sein kann und auch ein lineares Wachstum nicht nachhaltig wäre. Anzudenken seien Wachstumsdynamiken, die als monotones bzw. organisches Wachstum bezeichnet werden können; monoton im Sinne von verlangsamend steigernd, organisch im Sinne von Entstehen und Vergehen. Die Erklärung, wie genau dieses „alternative“ Wachstum in der Praxis aussehen könnte, blieb Exenberger allerdings schuldig.

Müssen wir überhaupt die Welt retten?

Mit dieser provokanten Frage zur Diskussion überleitend, gab Exenberger gleich selbst auch eine Antwort. Zumindest sei es, so der Buchautor, nicht egal, was wir tun, und wenn wir es nicht tun, tut es niemand. In dieser Auffassung steht das „wir“ für mündige KonsumentInnen, die mit ihren täglichen Kaufentscheidungen Marktmacht ausüben und stetig bestrebt sind, ihren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Das „niemand“ zielt vor allem auf „die Politik“ ab, die Exenberger in einem durchwegs düsteren Licht darstellte und der er jede ehrliche Gestaltungsmacht absprach. Stattdessen plädierte er für marktorientierte Lösungen und entsprechende Rahmenbedingungen.

Das sich hier offenbarende, eher fragwürdige Politikverständnis wurde von einem Zuhörer schließlich mit dem Einspruch quittiert, dass die Politik nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden dürfe. Auch wenn mündige KonsumentInnen unabdingbar für eine nachhaltige Entwicklung sind, scheint eine lediglich auf Marktmacht setzende Lösungsstrategie eindimensional und wenig erfolgsversprechend. Globale Asymmetrien sind durchdrungen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, höchst politisch und vor allem strukturell – hier braucht es die Politik, um nachhaltige Veränderungen in Gang zu setzen.

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