derstandard.at – Die Welt in der Nussschale

Bericht: “Die Welt in der Nussschale”
von Regina Bruckner
derstandard.at, 22.Dezember 2011

Warum ein indischer Bauer von der Wiedergeburt als europäische Kuh träumt und der Konsum seine Kinder frisst

Der Durchschnittsmitteleuropäer verbraucht viel zu viele Ressourcen. Die Folgen seines Konsums in anderen Teilen der Welt – Dinge wie Trinkwasserknappheit, Wüstenbildung und Kinderarbeit bleiben für ihn abstrakt. Viel zu weit ist alles entfernt. Ganz anders sieht das in einer Welt aus, die nur von 100 Menschen bevölkert wird. Deswegen stellen die Autoren Josef Nussbaumer, Andreas Exenberger und Stefan Neuner in ihrem Buch “Unser kleines Dorf” ein Gedankenexperiment an. Sie schrumpfen die große weite Welt auf “Globo”, ein Dorf mit hundert Einwohnern. Die Probleme sind hier die gleichen wie am gesamten Globus. Es geht um Wirtschaft, Konsum, Verkehr, Energie, Nahrungsmittel.

Die Globo-Einwohner leben in sechs Weilern – in Afrika, Asien, Ozeanien, Europa, Nord- und Lateinamerika. Die Umstände könnten unterschiedlicher nicht sein. 41 Personen haben zum Beispiel keine sanitären Anlagen, 13 keinen Zugang zu ausreichend sauberem Trinkwasser. Nur vier Bewohner können das Buch lesen, weil sie Deutsch verstehen. Von den elf Handfeuerwaffen im Dorf sind fünf in Nordamerika – mehr als die ganze Polizei besitzt. Die Autoren rechnen auch hoch, wie viele dieser Welten von Nöten wären, würden alle Menschen so viel Erdöl verbrauchen, wie das reichste Viertel der Welt. Gebraucht würden dann sieben Globos.

Billig produzieren, günstig konsumieren

Arbeitskraft gibt es in Globo im Überfluss. Arbeit eigentlich auch, aber viel davon wird ganz selbstverständlich unbezahlt erledigt. Tätigkeiten wie Kindererziehung, Hausarbeit, Pflegeleistungen oder die Erzeugung von Nahrung zur Selbstversorgung – typische Frauenarbeiten also. Neben diesen und den schlecht bezahlten unorganisierten Arbeitskräften gibt es in Globo nur wenige Beschäftige, die gewerkschaftlich organisiert sind. Davon profitieren die Eigentümer von Kapital, Boden und Rohstoffen. Die geringen Arbeitskosten ermöglichen billige Produkte, die natürlich den Konsumenten in den reicheren Regionen von Globo zugute kommen. Das wiederum hat soziale und ökonomische Auswirkungen, denn es betrifft vor allem junge Menschen. Schließlich ist die Hälfte der Bevölkerung in Globo jünger als 27 Jahre und ein großer Teil von ihnen (der Großteil lebt in den ärmeren Regionen) sieht angesichts der Fortschritte in der Medizin einem langen – allerdings eher perspektivlosen – Leben entgegen. Der Job auf Lebenszeit mit Pensionsanspruch ist eine Sonderform, die es nur in wenigen Regionen von Globo, nur für wenige Jahrzehnte und praktisch fast nur für Männer gibt, alles in allem für vielleicht 12 Menschen.

Materielle und soziale Kluft

Weil die eigene Arbeitskraft für die meisten Menschen in Globo aber nicht nur Einkommensquelle ist, sondern auch der Sinnstiftung dient, kommt zur materiellen auch noch die soziale Kluft. Auch was die Einkommen betrifft, regen manche Vergleiche zum Nachdenken an. So sind die Einkünfte in Globo insgesamt um den Faktor 16 gestiegen und immer noch um das Vierfache, wenn man es pro Kopf betrachtet. Das hat auch ökologische und verteilungstechnische Auswirkungen. Denn auch die mit dem Einkommen verbundenen Unterschiede haben deutlich zugenommen. Hätten alle Menschen in Globo im Jahr 2000 das Durchschnittseinkommen des Weilers Nordamerika, betrüge es insgesamt 3.100.000 Dollar, würden hingegen alle auf dem Niveau des Weilers Afrika leben, wären es nur 160.000 Dollar.

Das Leben in Globo ist also für die meisten Menschen nicht leicht. Die Hälfte des gesamten Vermögens liegt in den Händen von zwei Männern, während die ärmere Hälfte (mehrheitlich Frauen) nur über ein Prozent des Vermögens verfügt. Zugespitzt lässt sich das so formulieren: Die EU-Subvention für eine Kuh ist höher als das Pro-Kopf-Einkommen der ärmeren Hälfte der Globo-Bevölkerung. Ein in dem Buch angeführtes Zitat von Vijay Jawandia, Bauernführer aus Vidharbha bringt das so auf den Punkt: “Der Traum eines indischen Bauern ist es, als europäische Kuh wiedergeboren zu werden.”

Leben über die Verhältnisse

In dem Buch “Unser kleines Dorf” geht es um fehlende Nachhaltigkeit, fehlende Gerechtigkeit und fehlenden Frieden. Einmal mehr wird hier klar: Mit dem Wirtschaftssystem im Sinne des Ressourcenverzehrs, wie wir es in Mitteleuropa, also Österreich, Deutschland, der Schweiz oder in den USA haben, werden wir eine Welt von sieben Milliarden nicht bedienen können. “Wir stehen an einem Schnittpunkt der Geschichte, ich weiß nicht, ob das allen bewusst ist”, sagt Wirtschaftshistoriker Josef Nussbaumer im derStandard.at-Gespräch.

Kleine Schritte, um die großen Probleme anzugehen, seien notwendig. Der Bewusstseinswandel könne, geschichtlich betrachtet, nie verordnet werden, sondern müsse von unten kommen. “Die Rettung kommt nur von der Zivilgesellschaft”, ist Nussbaumer überzeugt “nicht von der Wissenschaft, die dorthin geht, wo das Geld ist und auch nicht von der Politik, die kurzfristig agiert.” Nussbaumer ist dennoch optimistisch, dass die Menschen bereit sind, umzudenken, “man unterschätzt sie”. Das Schlüsselelement sei jedenfalls der Konsum und “da tun wir uns beim Umdenken mit Abstand am schwersten.” (Regina Bruckner, derStandard.at, 22.12.2011)

“Unser kleines Dorf” ist im IMT Verlag erschienen und wurde mit dem Bildungsinnovationspreis des Landes Tirol ausgezeichnet. Der Reinerlös aus dem Verkauf des Buches wird karitativen Einrichtungen gespendet.

Schreibe einen Kommentar