wissenswert – Hunger haben doch nur andere

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Artikel: “Hunger? – Den haben doch nur andere!”

wissenswert, April 2014, S. 4f
von Christina Vogt

Vierzehn Stationen umfasst der „Kleine Kreuzweg des Hungers“. Er fördert Trauriges, Erschreckendes und Unverantwortliches zutage – und er führt uns unsere Gier plakativ vor Augen. Josef Nussbaumer hat den Hunger in der Welt aufgearbeitet. Im Interview berichtet er von den größten Ungerechtigkeiten und Herausforderungen.

Herr Nussbaumer, Hunger spielt in unserem Alltag kaum mehr eine Rolle. Warum bringen Sie das Thema wieder ins Gespräch?

Josef Nussbaumer: Die letzten Hungererfahrungen in unseren Breiten gab es in den Vierzigerjahren. Wohl noch nie in der langen Geschichte unserer Gegenden gab es bislang eine so lange „hungerfreie“ Zeit. So wundert es auch nicht, dass die meisten Bewohner hierzulande sich dessen kaum mehr bewusst sind. Betrachtet man die Hungersituation allerdings historisch und global, so kann man dies nur mit dem traurig-tragischen Befund beschreiben, dass Hunger für Mil- liarden Menschen und über Jahrtausende die Todesursache gewesen ist. Es handelt sich bei Hunger aber nicht um ein Naturgesetz, sondern um ein Versagen der Menschen. Und das heißt: Wir müssen etwas dagegen tun!

Woran liegt es, dass noch immer so viele Menschen hungern?

Josef Nussbaumer: Hunger hat viele miteinander zusammenhängende Ursachen. Sie alle hier nur aufzuzählen, würde schon den zur Verfügung stehenden Raum völlig sprengen. Und genau darin liegt das Problem: Man müsste so viele Hebel gleichzeitig in Bewegung setzen, um den Hunger endgültig zu beseitigen. Himmelschreiende Armut, Kriege, Folgen von Klima- und Naturkatastrophen, fehlerhafte Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik, Politikversagen bis hin zum Spekulieren mit Grundnahrungsmitteln, und was alles an strukturellen Ursachen für Hunger noch zu nennen wäre, sollten nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, die scheinbar hoffnungslose Lage bei der Hungerbekämpfung zu rechtfertigen.

Was könnte ein erster Schritt sein?

Josef Nussbaumer: Wir müssen den Kreislauf des Schwei- gens durchbrechen, denn Hunger ist eine stille Katastrophe. Man versucht, diesen sozialen Skandal entweder überhaupt zu verschweigen oder zumindest so wenig wie nur möglich medial ans Tageslicht zu bringen. Im Moment kann man wohl ohne große Übertreibung behaupten, dass ein Großteil der Hungernden und der Verhungerten direkt im Archiv des Schweigens landen. Richtig tot sind aber nur diejenigen, über die man nicht mehr redet und die man endgültig aus der Erinnerung verdrängt hat. Der Hunger braucht also dringend mehr Öffentlichkeit.

Aktuell leben auf der Erde sieben Milliarden Menschen. Kann die Erde überhaupt so viele Menschen ernähren?

Josef Nussbaumer: Global ist Hunger nicht primär ein Produk- tionsproblem, sondern ein Verteilungsproblem. Mit anderen Wor- ten: Es werden nicht zu wenig Nahrungsmittel produziert, diese gelangen nur nicht an alle Menschen. Um alle Menschen zu sättigen, müssten wir aber sehr wohl etwas an unseren Ernährungs- und Konsumgewohnheiten ändern. Ob ich Getreide zur Fleischproduktion oder zur Produktion von „Biodiesel“ und Landflächen zum Anbau von nachwachsenden Rohstoffen verwende – überall treffen wir auf die Verteilungsproblematik, die zum Teil recht brachiale Züge trägt. Nehmen wir nur das so genannte „land grabbing“ („Landraub“), das in letzter Zeit immer mehr um sich greift, wo die Reichen (vor allem über Konzerne) sich an den guten Landflächen der Armen bedienen: Pessimisten befürchten, dass zehn bis 30 Prozent der weltweiten Agrarfläche diesem Phänomen zum Opfer zu fallen könnten. Andererseits hungern weltweit etwa hunderte Millionen Subsistenzbauern, die sich mit schlechten Böden begnügen müssen, um gerade einmal sich und ihre Familien zu ernähren. Umverteilung wird wohl auch unsere Essgewohnheiten betreffen müssen, denn schon heute würde man bei europäischen Konsumgewohnheiten die doppelte Fläche der Erde für die Nahrungsmittelpro- duktion benötigen. Unser Verhalten ist somit in der jetzigen Form nicht globalisierbar.

Wie steht es mit dem oft ge­ geißelten Fleischkonsum?

Josef Nussbaumer: Betrachtet man die Entwicklung des globa- len Fleischkonsums der letzten Jahrzehnte, so kann man von einer „Fleischeslust“ noch nie da gewesenen Ausmaßes sprechen. Um 1950 wurden weltweit rund 44 Millionen Tonnen Fleisch produziert, 2011 hatte sich die Produktion fast versiebenfacht. Jede Sekunde werden auf unserem Globus 1900 Tiere geschlachtet, um den Fleischkonsum vor allem der privilegierteren (reicheren) Weltbevölkerung zu befriedigen. Durch die Umwandlung von pflanzlichen in tierische Nahrungsmittel gehen Unmengen an Kalorien verloren, die theoretisch 3,5 Milliarden Menschen ernähren könnten. Wir werden also nicht für alle Zeit beliebig viel Fleisch essen können.

Was kann jeder Einzelne gegen den Hunger tun? Bleibt uns nichts anderes, als zu kapitulieren?

Josef Nussbaumer: Jeder Einzelne kann sehr wohl etwas tun. Wir sollten alle keine Nahrungsmittel verkommen lassen. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel bis die Hälfte aller weltweit produzierten Nahrungsmittel, auch wegen falscher Lagerung, weggeworfen werden. Das kann so sicher nicht weitergehen. Allein von den in den USA und Europa weggeworfenen Nahrungsmitteln könnte man dreimal so viele Menschen ernähren, wie auf der Erde an Unterernährung leiden. Wer es verstehen kann, der verstehe es. Ich halte es mit Jean Ziegler, der in seinen Vorträgen im- mer wieder erwähnt, dass eines Tages die Schande und das Sich- Schämen der Nichthungernden ob der vielen Hungernden obsiegen werde. Mit anderen Worten: Diese Schande – vergleichbar mit der scheinbaren Ausweglosigkeit des Karfreitages – sollte ein letzter Stachel im Fleisch der Gesät- tigten werden. Wie sagte schon Hermann Broch: „Bekämpfen wir also unsere größte Sünde: die Gleichgültigkeit!“

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