Salzburger Nachrichten – Bitte nicht sudern!

Interview: Josef Nussbaumer
von Heike Hausensteiner
Salzburger Nachrichten, 18.08.2018

SN: Sie beschäftigen sich mit weltwirtschaftlichen Problemen seit 1850 und besitzen kein Handy. Ist das Ihr politisches Statement als Wirtschaftshistoriker?
Nussbaumer: Nein. Ich habe nur einfach viele Dinge nicht mitgemacht. Ich habe auch keinen Führerschein. Wenn die technologische Entwicklung so weitergeht, braucht man vielleicht ohnehin bald keinen Führerschein mehr (lacht). Mit dem Handy jederzeit erreichbar sein zu müssen stört mich. Aber es wäre hanebüchen zu behaupten, weil ich kein Handy oder kein Auto habe, verändere ich etwas an der Rohstoff-Knappheit oder Kinderarbeit.

SN: Warum ausgerechnet ein Buch zum Thema Hoffnung?
Ich habe mich mit Hungergeschichte, Natur- und Zivilkatastrophen beschäftigt und vor drei Jahren das Buch „Leidenswege der Ökonomie“ herausgebracht. Bei den Buchpräsentationen kam regelmäßig die Frage aus dem Auditorium: „Gibt’s denn nichts Positives zu berichten?“ Darauf wollte ich eine Antwort geben, habe seit Jahren Fakten aus Zeitungsberichten gesammelt, weiter recherchiert und war selbst überrascht, wie viel Positives es auch gibt. Wenn man zu viel nur das Negative betrachtet, wird man ein richtiger Suderer und jammert durch die Gegend. Diese Suderei unterstützt ungeheuer den Populismus, der derzeit ganz massiv ist, und fördert die Lethargie. Die positiven wirtschaftlichen Aspekte national wie global sind einfach vorhanden, darauf müsste man viel stärker hinweisen. Die Medien scheinen dazu verdammt zu sein, negative Schlagzeilen zu bringen. Wir Wirtschaftshistoriker sind stärker auf Trends fokussiert, bei näherem Hinschauen fällt uns auf: Eine bestimmte wirtschaftliche Entwicklung ist viel besser, als man glauben würde.

SN: Wie profitieren Populisten von der Jammer-Stimmung?
Historisch betrachtet, ist Populismus immer in Wellen gekommen und gegangen. Diesen Hoffnungstropfen habe ich auch jetzt. Generell ist es viel einfacher, negative Szenarien aus der Gesellschaft herauszuholen und darauf ein ideologisches Kalkül aufzubauen. Wie bei Schizophrenie wird das Positive vom Negativen getrennt, und auf dem Negativen wird die Ideologie konstruiert. Dazu kommt die nicht historische Betrachtung unserer Gesellschaft. Würden wir uns anschauen, wie Menschen vor 30 oder 50 Jahren gelebt haben oder im Spital behandelt wurden, wären wir heute überglücklich über jedes Krankenhaus und würden weniger jammern. Weil wir verwöhnt sind. Die Ironie der Geschichte ist: Die Welt globalisiert sich, aber wir denken viel zu wenig global. Wir sind abhängig von Rohstoffen aus der Dritten Welt und denken überhaupt nicht nach, woher diese Stoffe kommen. Die Ökonomen haben daran Mitschuld, weil sie diese Dinge zugedeckt haben und Wirtschaftsgeschichte aus den Lehrplänen wieder hinausgedrängt wurde.

SN: Warum?
In den 1970er-Jahren gab es im deutschsprachigen Raum eine Welle, wo viele wirtschaftshistorische Institute gegründet wurden, die es heute fast alle nicht mehr gibt. Weil man der Meinung war, das wäre nicht so wichtig. Wenn man ein sehr enges Effizienzdenken hat, fällt das hinaus. Wenn man Ökonomie als weiteren Teil von Kulturgut sieht, gehört Wirtschaftsgeschichte umbedingt dazu! Es hat auch mit dem Neoliberalismus zu tun, der alles, was die kritische Betrachtungsweise verstärkt hat, gestrichen hat.

SN: Wird das eine Abrechnung mit dem Neoliberalismus?
Die Idee wäre: Umdenken. Weil unter viel schlechteren Bedingungen in der Dritten Welt und mit Altruismus Erfolge erzielt werden, wie wir im Buch aufzeigen. Indirekt wird damit natürlich der Neoliberalismus kritisiert. Es gibt ja Beispiele dafür, dass Utopien Wirklichkeit werden. Etwa Robert Owen, der im 19. Jahrhundert in seiner Baumwollspinnerei in New Lanark in Schottland den Arbeitnehmern einen Zehn-Stunden-Arbeitstag, Krankenversicherung, ausreichende Löhne und günstige Produkte ermöglichte. Er wurde utopischer Sozialist genannt, das war ein Schimpfwort von Karl Marx. Aber die Utopie wurde erfolgreich umgesetzt. Und solche Utopien müsste man globalisieren oder zumindest im regionalen Bereich realisieren.

SN: Wäre das überhaupt erwünscht?
Solche Dinge sind nie erwünscht! Ob es um Arbeitszeitreduktion, Frauenrechte oder Demokratie geht, das passiert nie freiwillig. So etwas lässt sich nur mit sanfter Gewalt und der Zivilgesellschaft durchsetzen.

SN: Sie berichten über zahllose Beispiele,die Einzelne umgesetzt haben, vom Aufforstungsprojekt über die Gratis- Apotheke bis zur Bibliothek von der Müllhalde. Die Entwicklungshilfe aber wird in vielen Ländern gekürzt. Was läuft da falsch?
Wenn Entwicklungshilfeminister dort eine Million und da eine Million streichen, würde mich das nicht so nervös machen. Vielleicht ist die gesamte Entwicklungshilfepolitik zu hinterfragen. Die größte Hilfe wäre, wenn wir die armen Länder über weite Strecken in Ruhe lassen und sie nicht daran hindern würden, was sie tun möchten. Wir sponsern unsere Lebensmittel mit jährlich 350 Milliarden Dollar in der reichen Welt, das ist das x-Fache der gesamten Entwicklungshilfe, die wir leisten. Mit dieser Förderung zerstören wir den landwirtschaftlichen Markt der Dritten Welt, weil wir subventionierte Lebensmittel hinschicken. Es wäre viel sinnvoller, die Subventionitis unserer Landwirtschaft oder im Energiebereich zu streichen. Die fossile Energie wird viel mehr gefördert als die alternative Energiegewinnung, trotzdem setzen derzeit global zwei Drittel auf die Solar- und Windenergie. Das dreht sich also trotz Subventionitis um! Die kleinen Geschichten, die Erfolg haben, werden sich durchsetzen. Und die Zivilgesellschaft müsste gegen die Gleichgültigkeitsgesellschaft ankämpfen. Gleichgültigkeit ist bei uns in der reichen Welt die Haupttodesursache.

SN: Hat nicht alarmistische Berichterstattung genauso Positives bewirkt? Etwa beim Thema Klimaschutz.
Sie haben völlig recht. Journalismus muss die negativen Dinge bringen, das ist überhaupt keine Frage. Wenn Journalismus aber im Negativen hängen bleibt, halte ich das für gefährlich. Wir sind zur Aufklärung gezwungen, wir können da nicht mehr zurück. Wie man an den großen philosophischen Zügen sieht, hat uns die Romantik den Gedanken gebracht: „Früher war alles besser.“ Das bemerke ich jetzt wieder, aber ich teile die Kritik nicht, wonach uns die Aufklärung dieses Bild zerstört habe. Wir müssen beides relativieren, die Romantik und die Aufklärung, die einst meinte, der Mensch würde alles tun dürfen.

SN: Die Romantik scheint ja jetzt auch in Form der Nationalismen zurückzukommen.
Und wir wissen genau, was die Folgen waren. Das Positive ist: Die Dinge wiederholen sich nie 1:1. Trotz Kickl und Co. werden sich die 20er-, 30er-Jahre nicht in Österreich wiederholen, und obwohl sich die jetzige Regierung ein bisschen spielt, wird es zu einer Gegenbewegung kommen. Da bin ich mir ganz sicher.