Die 1950er Jahre brachten in Tirol vielleicht den historisch schnellsten und eindrücklichsten Wandel in Friedenszeiten, den das Land je gesehen hat. 1950 waren die Spuren des Krieges noch allgegenwärtig und das Leben war geprägt von Knappheiten. 1960 hingegen war Tirol bereits auf die Überholspur Richtung Massenkonsumgesellschaft eingeschwenkt. Das galt noch nicht für alle, aber die Weichen waren gestellt.
Die Nachkriegsnot war 1950 nicht vorbei. Noch gab es Rationierungen und die offizielle Inflation war hoch, sofern es etwas zu kaufen gab. Doch die Zeiten des Schwarzmarktes waren so gut wie vorbei und das Angebot erweiterte sich. So gab es wieder normales Bier (sogenanntes „Friedensbier“) und wieder mehr als nur zwei Zigarettensorten. 1950 wurde auch erstmals wieder eine Innsbrucker Herbstmesse abgehalten, sogar mit angeschlossenem Vergnügungspark.DAS WUNDER WIRTSCHAFTWas in den kommenden Jahren folgen sollte, entsprach einem globalen Trend und wurde vom Schweizer Historiker Christian Pfister mit dem Begriff „1950er-Syndrom“ beschrieben. Damit wies er auf den starken Anstieg im Energieverbrauch in dieser Zeit hin, der sich auch hier-zulande vollzog, wenn auch mit etwas Verzögerung. In den 1950er Jahren war Tirol noch eine Kohle- und Holzgesellschaft, bis 1954 sogar noch mit eigenem Kohleabbau. Der Holz-verbrauch sank aber bereits und der neue Treibstoff Erdöl deckte 1960 immerhin schon ein Drittel des Gesamtenergiebedarfs. Aus eigener Kraft wurde vermehrt Strom erzeugt, das neue Kraftwerk Imst eröffnete 1956. Was Pfister als „Syndrom“ beschrieben hat, dessen negative Auswirkungen in Form von Umweltschäden sich erst später zeigen sollten (der globale Temperaturanstieg begann hingegen in den 1950er Jahren, wenn auch noch kaum bemerkt), war verbunden mit einem allgemeinen Wandel, der unmittelbar vor allem positive Folgen hatte. Denn in den 1950er Jahren voll-zog sich in vielen wirtschaftlichen Bereichen ein anhalten-der Aufschwung, der auch eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse zur Folge hatte.Der geläufigere Begriff für diese Entwicklung ist daher das „Wirtschaftswunder“. Rückblickend betrachtet ist es zwar gut erklärbar, aus der Zeit heraus lag eine derartig schnelle und erfolgreiche Entwicklung aber schlicht außerhalb der Vorstellungskraft, glich daher einem „Wunder“. Viele Gründe haben dazu beigetragen, vor allem war es ein Aufholprozess nach einer langen Phase der Abschottung, Stagnation und Zerstörung. Dabei halfen insbesondere Kredite aus dem Marshall-Plan, eine aktive Wirtschaftspolitik im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft und der Verstaatlichung bestimmter Aufgaben, die Öffnung von Exportmärkten, eine gelungene Währungsreform und der Umstand, dass anfangs noch genug Arbeitskräfte vorhanden waren. Denn auch der wirtschaftliche Strukturwandel nahm in den 1950er-Jahren so richtig Fahrt auf. Die oft sehr prekäre Beschäftigung in der Landwirtschaft ging kontinuierlich zurück und sank bis 1960 auf nur noch (!) ein Viertel der Arbeitskräfte, während der gewerbliche und industrielle Sektor zum dominanten Wirtschaftszweig wurde, wo zudem bessere Löhne gezahlt wurden.So begannen Mitte der 1950er Jahre die „goldenen“ Jahre für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Tirol mit faktischer Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen – 1961 übrigens in etwa in derselben Höhe wie heute, freilich in Schilling (!), nicht in Euro. Aus Unternehmenssicht war das trotz guter Konjunktur eine weniger angenehme Lage. Der Arbeitskräftemangel, so hieß es im Jahresbericht der Handelskammer von 1960, hätte sich bereits so verschärft, dass „ein Leistungsabfall sowohl quantitativ wie auch qualitativ eingetreten war“. Dieser Mangel betraf nicht nur Fachkräfte, sondern längst auch Hilfskräfte.All das war nicht zuletzt der wirtschaftlichen Öffnung zu verdanken. Dabei war Tirol nach dem Zweiten Weltkrieg lange eine recht isolierte Region. Erst ab 1. Juli 1953 konnte man etwa wieder visum-frei über die deutsche Grenze reisen und auch die politische Souveränität war vor dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 beschränkt. Zwar waren die französische Besatzung in Nordtirol und die britische in Osttirol bereits davor faktisch beendet worden, doch erst Unabhängigkeit und Neutralität erlaubten Österreich eine echte Integration in die neu formierte Staatengemeinschaft und Weltwirtschaft. Politisch und für Tirol am wichtigsten war sicher die da-mit verbundene Internationalisierung der Südtirol-Problematik, was die Lage dort und auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit letztlich sehr verbesserte. Wirtschaftlich ging es aber vor allem um die Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft, was gerade für Tirol aufgrund seiner Lage zwischen Deutschland und Italien sehr wichtig war. Zwar war ein Beitritt Österreichs zur EWG damals nicht möglich, aber immerhin erfolgte 1960 die Gründung der EFTA und damit engere Bindungen an die Schweiz. Und auch wenn für Tirol der „Eiserne Vorhang“ weit entfernt lag, so baute Österreich doch auch Brücken in die kommunistische Welt, von denen alle im Land profitierten. Was man dabei nicht unter-schätzen darf: Mit diesen Entwicklungen gingen Jahrzehnte der teils mehr, teils weniger ausgeprägten wirtschaftlichen Isolation und Gegnerschaft zu Ende. Handel und Tourismus, aber auch die Versorgung mit alltäglichen Waren sollten da-von sehr profitieren. Internationalisierung hatte dabei viele Gesichter. So dachte der Innsbrucker Gemeinderat schon 1951 an ein etwas utopisch klingendes Ziel: Olympische Winterspiele. Nach lebhafter Debatte wurde damals einstimmig ein Nachtragskredit von 45.000 Schilling (!) für die Vorbereitung beschlossen. Offiziell bewarb man sich 1955, scheitere aber knapp am US-amerikanischen Bewerber Squaw Valley. Im zweiten An-lauf 1959 erhielt Innsbruck den Zuschlag und so konnten die Spiele 1964 auch erstmals in Tirol stattfinden.
ANFÄNGE DES MASSENKONSUMS
Diese Winterspiele sollten einen starken Impuls speziell für den Wintertourismus aussenden, jedoch war der „Fremdenverkehr“ auch in den 1950er Jahren schon stark gewachsen: von 2,3 Millionen Nächtigungen im Jahr 1950 auf 11,7 Millionen im Jahr 1960, eine weitere „wundersame“ Entwicklung. Angesichts aktueller Entwicklungen ist es dabei vielleicht gar nicht so schlecht, sich an diese Früh-zeit zu erinnern, denn Tirol war damals noch größtenteils eine „Sommerfrische“ und erst ein Viertel der Nächtigungen entfiel auf die Wintersaison.Man strebte also nach Vernetzung, was vielleicht auch gewisse Ängste dieser Zeit verstehen hilft. Der Ausbau der Brennerstraße etwa wird im Jahresbericht der Handelskammer 1958 als dringlich und unerlässlich geschildert, „sollen nicht durch Umfahrung Österreich und nicht minder Bayern, Südtirol und Norditalien unabsehbaren Schaden erleiden“. Manchmal würde man sich heute wohl etwas mehr „Umfahrung“ wünschen, noch 1954 fuhren hingegen nur gut zwei Dutzend Lkw über den Brenner – pro Tag wohlgemerkt. Auch Vorarlberg war damals im Winter in der Regel wegen Streitigkeiten über die Kosten der Schneeräumung mit dem Auto meist nicht direkt erreich-bar (den Straßentunnel gibt es erst seit 1978), Osttirol bis zur Errichtung des Felbertauerntunnels (1967) selbst im Sommer nur über Südtirol (oder sehr großräumig) und auch die Autobahn erreichte Tirol erst in den 1960er-Jahren. Doch die Mobilisierung schritt voran und eine von manchen damals bald erwartete „Sättigung“ trat noch lange nicht ein. Statt Fahrrädern und Bussen dominierte 1960 schon der Autoverkehr und es gab bereits in jedem fünften (!) Haushalt einen Pkw.Auch andere „Konsumträume“ wurden aus den USA importiert. Das Jahrzehnt begann damit, dass eine Wohnung mit eigenem Bad noch ungewöhnlich war, ja selbst Warmwasser ein gewisser Luxus. Es endete mit Waschmaschinen und Kühlschränken als Statussymbolen des Aufstiegs. So folgte auf den Hunger der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Phase, in der man nicht zuletzt durch reichlich gutes Essen und Trinken zeigen wollte, was man sich nun leisten kann. Entsprechend ging während der 1950er Jahre der Verbrauch von Brot, Kartoffeln und Mehl teils deutlich zurück, dafür nahm der monatliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch- und Wurstwaren und von Eiern deutlich zu, statistisch auf mehr als 3 kg bzw. 16 Stück pro Kopf und Monat. Auch Elektroherde, Telefone und Radiogeräte verbreiteten sich immer mehr, 1955 wurden die ersten Bewilligungen für Fernsehgeräte erteilt. Schon 1952 eröffnete in Innsbruck auch der erste „Selbstbedienungsladen“ und das noch dazu mit einer besonderen Attraktion: einer automatischen Eingangstür. Ob sich das Konzept durchsetzen würde? Auch die Geburtsstunde von Spar Österreich schlug 1954 in Tirol, als Hans F. Reisch in Kufstein den Grundstein für die spätere Handelskette legte.Wachstum gilt freilich auch für eine Kehrseite des Erfolgs und des Konsums. Die Zeit des Recyclings aus der Not der Nachkriegszeit heraus war praktisch vorbei. Statt der Versorgung mit Ressourcen wurde vielmehr die Entsorgung von Müll zum Problem. Und der neue Konsum war auch nicht für alle gleichermaßen möglich. Noch Mitte der 1950er Jahre mussten Tiroler Familien im Durchschnitt rund 50 Prozent der Haushaltsausgaben alleine für Nahrungs- und Genussmittel ausgeben. Da blieb nicht viel für anderes übrig. Doch die Zeiten sollten sich weiter verbessern. Der neue Optimismus spiegelte sich auch in den Geburtenzahlen, der sprich-wörtliche „Babyboom“ strebte seinem Höhepunkt zu, den er in Tirol 1964 erreichen sollte. Zu-gleich wird aus dem Auswanderungsland, das Tirol über Jahr-hunderte gewesen ist, bereits in den 1960er Jahren ein immer attraktiveres Zuwanderungsland. Das zeigt zugleich und half dabei, dass sich der Aufschwung in den 1960er Jahren weiter fortsetzte.
Beitrag: WISO – History
Andreas Exenberger | AK-Tirol WISO
WISO – Ausgabe April 2024